Folgende kleine Begebenheit, die schon mal als Witz kursierte, soll am Anfang stehen: In einem Zugabteil sitzen sich eine Mutter mit ihrem Kind und ein zeitungslesender Mann gegenüber. Der Junge, wohl mehr aus Langeweile, beginnt mit den Beinen zu baumeln und stößt dabei den Mann gegen das Schienbein.
Das wiederholt sich mehrere Male, der Junge findet Gefallen daran. Die Mutter sieht es wohl, doch reagiert sie nicht darauf. Überaus verärgert schaut der Mann die Mutter an, doch die zuckt nur mit den Schultern und sagt: „Ich misch mich da nicht ein, ich erziehe mein Kind antiautoritär.“ Dem Mann will es fast die Sprache verschlagen. An der nächsten Station muss er aussteigen. Er greift sein Gepäck und im Vorbeigehen schüttet er plötzlich der Frau den Rest seiner Wasserflasche über ihren Kopf. Natürlich ist sie völlig außer sich: „Was bilden Sie sich ein!“, keift sie. Er: „Was wollen Sie denn? Ich bin früher auch antiautoritär erzogen worden.“
Der antiautoritäre Erziehungsstil – Von vielen Eltern missdeutet
Zugegeben, diese Szene über antiautoritäre Erziehung und die Reaktion darauf fällt etwas drastisch aus. Doch sie zeigt zugespitzt die Ambivalenz dieser Erziehungsmethode, die oft falsch gedeutet wurde und ihr einen schlechten Ruf einbrachte. Dabei sind die Absichten, die mit dieser Erziehung verbunden sind, durchaus zu würdigen und zu vertreten. Früher hätte man gesagt: die Kinder an der langen Leine halten. Der Nachwuchs soll selbstbewusst heranwachsen, keinen Einschränkungen unterliegen und praktisch keine Grenzen kennen. Welch eine Verlockung für die Kinder!
Es waren die späten 60er Jahre, die die Antiautorität auf die Fahnen schrieb und auf die Straßen brachte. Nach Jahrzehnten von Zucht und Ordnung, strengster Disziplin und Unterordnung wurden die freie Entfaltung und der Wegfall jeglicher Bevormundung zum Erziehungsideal erhoben. Ein löblicher Ansatz, der jedoch von vielen Eltern missdeutet wurde. Nicht selten steckt hinter antiautoritärer Erziehung auch Bequemlichkeit seitens der Eltern, die ihrem Kind seine eigenen Dinge tun lassen, und meinen, dass es schon zurechtkommen wird. Da ist es bis zum Laisse-Faire Erziehungsstil nicht mehr weit.
Ein antiautoritärer Erziehungsstil bringt durchaus positive Ergebnisse
Antiautoritärer Erziehungsstil kann dennoch nicht zu einem einheitlichen Ergebnis kommen. Nur von „Flegeln“, „Chaoten“ oder „Egoisten“ im Nachhinein zu sprechen, wäre zu kurz gegriffen. Kinder können zu selbstbewussten Persönlichkeiten heranreifen, besondere Kreativität zeigen und Entscheidungsfähigkeit beweisen.
Autoritäten erkennt es später nur bedingt an, was wiederum z.B. im Berufsleben, das von gewissen Hierarchien geprägt ist, zu Konflikten führen kann. Ein positiver Aspekt ist, dass man sich nicht so leicht „unterbuttern“ lässt und unterwürfiges Verhalten ablehnt. Das hat durchaus auch was mit Selbstbehauptung zu tun. Heutzutage ist „antiautoritäre Erziehung“ ein verpönter Begriff, denn seine negativen Aspekte haben sich nun mal stärker in das Bewusstsein gebrannt. Vielmehr ist von demokratischer Erziehung mit gewissen Regeln die Rede, die Liberalität, Emanzipation, Sozialisation und Kreativität einschließt.